Skip to main content
Schweizer Blasmusik-Dirigentenverband

Spielen wir am Volk vorbei?

11. September 2023

Der Schweizer Blasmusik-Dirigentenverband BDV hat am aVENTura eine Podiumsdiskussion zur Schweizer Blasmusikliteratur organisiert. Die Meinungen gehen erwartungsgemäss weit auseinander.

 

Wie steht es um die Qualität der Schweizer Blasmusikkompositionen? Spielen wir am Volk vorbei? Oder braucht es mehr künstlerische Eigenständigkeit? Um solche Fragen ging es an der rund zweistündigen Podiumsdiskussion, die vom BDV organisiert worden ist.

Folgende Personen haben teilgenommen:

Katja Weber ist Dirigentin. Seit sie 21 ist, dirigiert sie, im Moment den Musikverein Konkordia Au.

Roger Kipfer arbeitet in der Bundesverwaltung, er ist Dirigent der MG Wilderwil. Sein letztes Konzert hatte er am Tag der Podiumsdiskussion.

Felix Hauswirth war an der Musikhochschule Basel Professor für Blasorchesterdirektion.

Verleger Michael Hug leitet den Verlag Musik Ruh.

Marc Jeanbourquin ist Lehrer und Komponist. 2023 hat er bereits zehn Werke veröffentlicht.

Thomas Trachsel ist Komponist und Präsident der Musikkommission des Schweizer Blasmusikverbands.

 



Das Podium (von links): Katja Weber, Roger Kipfer, Felix Hauswirth, Michael Hug, Marc Jeanbourquin, Thomas Trachsel sowie Moderatorin Michèle Schönbächler. Bilder: windband.ch

Diskussionsleiterin Michèle Schönbächler ist Co-Programmleiterin SRF1 und Musikwelle und moderiert die Sendung «Persönlich» auf SRF 1 - sie ist aber auch Klarinettistin, kantonale Veteranin und Mitglied in der Feldmusik Sarnen. Sie sagt von sich: “Musik, insbesondere Blasmusik, liegt mir sehr am Herzen. Weil ich weiss, wie faszinierend es ist, in einem Orchester mitspielen zu dürfen; weil ich weiss, wie wichtig es ist für die jungen und ältere Leute, in einem Verein tätig zu sein. Und weil mich diese Musik immer wieder berührt.”

Geprägt habe sie einerseits, als sie am Eidgenössischen Musikfest im KKL spielen durfte. Ein prägendes Erlebnis war aber auch die 2. Sinfonie von Gustav Mahler. Musik soll berühren, sagte Schönbächler und fragte: Wie viel Musik können wir dem Publikum zutrauen?

Der Komponist Thomas Trachsel kann nachvollziehen, wenn seine Musik einem Orchester gefällt, dem Publikum aber nicht. Was gefällt, müsse jeder mit sich selber ausmachen. Schlimm wäre für Trachsel nur die Egalität. Gleichgültigkeit wäre das Schlimmste, das sei ihm aber noch nicht passiert.

Dirigent Roger Kipfer sagt jedoch, man spiele fürs Volk. Das ist das klare Ergebnis einer Vereinsdiskussion vor etwa zehn Jahren zur Frage, was der Verein spielen wolle. Kipfer folgert deshalb: Ihn habe es fasziniert, Stücke zu spielen, die ihn fordern – aber wenn es beim Publikum nicht ankommt, sei es falsch. 

Trachsel fragt sich manchmal auch, wen er ansprechen wolle mit seiner Musik. Die Arbeit des Komponierens könne auch sein Ventil sein. Viele Leute, die seine Musik hören, brächten ihn nicht in Verbindung mit seiner Musik. Und er fragt: Was ist denn die Musik für das Volk?




Thomas Trachsel und Michèle Schönbächler

 

Kipfer wählt das Repertoire nicht selber aus. Jedes Mitglied kann Vorschläge eingeben, die Musikkommission selektioniert die Werke und wählt aus, was gefällt. Dann spielt der Verein diese Stücke an und wählt schliesslich aus. Zwei Werke jedoch bestimmt der Dirigent selber. Er sagt: “Die Leute wollen Freude und Spass haben.”

Hauswirth bezeichnet die Programmgestaltung als “Aufgabe des Dirigenten”. Denn dieser sei verantwortlich dafür, was er dem Publikum präsentiere. Der Dirigent müsse die Freude an sein Orchester übertragen. Musik müsse für sich sprechen, nicht erklärt werden. Wenn der Verein Vertrauen in den Dirigenten habe, müsse das Stück nicht schon in der ersten Probe gut tönen. Wer 30 Stunden an einem Programm arbeite, könne auch sein Publikum überzeugen.

Katja Weber sagt, man könne das Publikum auch etwas erziehen. Gehörbildung müsse nicht nur beim Orchester, sondern auch beim Publikum stattfinden. Solch ungewohnte Musik müsse aber gut eingeführt werden. Es sei sehr wichtig, das Publikum abzuholen, dieses dürfe nicht ins kalte Wasser geworfen werden.

Trachsel konterte, man könne sein Publikum nicht erziehen, aber man könne sein Publikum höchstens auswählen. Wir müssten aufhören, das Publikum zu bevormunden. Das Publikum sei so emanzipiert, dass es selber wählen könne, was es hören möchte.

Hug meint, Kunst solle berühren. Als Verlag sei er nicht unglücklich, nicht 100 Werke von Trachsel herausgeben zu müssen. Denn letztlich müsse er auch rechnen. Die basisdemokratische Auswahl könne funktionieren. Umgekehrt schätze er es, wenn er an einem Konzert einen roten Faden oder ein neues Werk entdecke.

Es gibt Stücke, die funktionieren und andere nicht. Gründe dafür kennt Jeanbourquin nicht. In der Schweiz könne man nicht von Komposition leben. Trachsel wollte als Komponist von Anfang an eine Nische besetzen. Ihr war klar, dass er nie eine Hitparade stürmen würde. Er fragt sich, ob es zielführend ist, vom Komponieren leben zu müssen. Hug betonte, nur fünf Prozent des Schweizer Marktes sei Blasmusik. Die “grosse Kohle” sei in der elektronischen Musik zu holen, die “akustische Musik” werde kaum mehr gehört. 

Katja Weber

 

Katja Weber ist aufgefallen, dass in der Blasmusikszene gerne gejammert wird – über Mitgliederschwund, fehlende Jugendliche, falsche Literaturwahl usw. Im Ausland falle aber der Rückhalt der Blasmusik in der Schweiz auf. Hier werde sehr viel für Aus- und Weiterbildung getan, die Verankerung in der Bevölkerung sei augenfällig.

 Trachsel widersprach: Der Blasmusik gehe es nicht gut. Hingegen sei die Qualität gut. Nie seien so viele Orchester gegründet worden wie heute. Die Orientierung an der Kultur selbst fehle aber allzu oft.

Man wolle steigende Mitgliederzahlen, aber den Dorfvereinen würden Steine in den Weg gelegt, sagte Weber in Bezug auf die neue Wettstückliste. Der soziale Kern in einem Verein könne dienlich sein, sagte Trachsel, aber auch zum Problem werden.  

Auch Kipfer fragte sich, wieso viele Stücke aus der neuen Wettstückliste herausgefallen sind? Gut sei jedoch, dass die alte Liste bis 2026 weiter gelte. 

Trachsel betonte, die Wettstückliste sei nur für den Wettbewerb am Eidgenössischen Musikfest massgebend. Sie beschränke nicht die Möglichkeiten der regionalen und kantonalen Gremien. Die Liste umfasste früher 3000 Werke, heute noch 1000 - und viele der gestrichenen Werke seien seit Jahrzehnten nicht mehr gespielt worden. Auf den Hinweis, dass viele Stücke von Mario Bürki herausgefallen sind, konterte Trachsel, die Wettstückliste enthalte immer noch viele Bürki-Werke. 

Man sei sich bewusst gewesen, dass man sich einem Shitstorm aussetze. Aber die Wettstückliste sei zu einem Werbekatalog für Verlage geworden, so Trachsel. Eine Veränderung war notwendig.

Katja Weber fragte sich, wieso nicht diskutiert werde, ob es eine Wettstückliste brauche. Trachsel würde die Liste am liebsten auch abschaffen. Sie geben aber die Möglichkeit, Werke auf einem bestimmten Niveau einzureichen. 

 

 

Marc Jeanbourquin

 

Trachsel betonte, es reiche nicht mehr, als Musikkommission an einem Samstagvormittag einen Musikverlag zu besuchen und dort Werke für ein bestimmtes Motto zu suchen. Hug fand aber, noch nie seien die Kunden so gut dokumentiert gewesen wie heute. Er sei erstaunt, wie genau manchmal recherchiert werde. Es gebe sehr viel gute Werke. Das Verhalten der Dirigenten habe sich stark geändert in den letzten 40 Jahren. 

Von einem Schweizer Komponisten erwartet Hauswirth nicht ein Schweizer Lied, sondern “nichts anderes als bei einem ausländischen Komponisten auch”. Heute komponieren japanische Komponisten ähnlich wie österreichische Komponisten. Wichtig sei, dass er ein Stück gut finde und es ihm auch gefalle. Das gehe ihm auch mit der Musik von Johann Sebastian Bach so. Das ist für Hauswirth zwar tolle Musik, aber er hört sie nicht gerne. Ein wichtiges Kriterium bei zeitgenössischer Musik sei, dass er sich zurechtfinde. 




Roger Kipfer

 

Braucht es eine Geschichte hinter einem Werk? Ein Programm, das dem Publikum erzählt wird. Nein, sagte Hauswirth. Es sei super, wenn das Publikum selber eine Geschichte hinter der Musik spüre, aber die Musik müsse nicht erklärt werden. 

Braucht das Volk Programmmusik, fragte Michèle Schönbächler nochmals? Trachsel fand, er wisse nicht, was das Publikum brauche. Das finde nur in unserem Kopf statt. Ihn interessiere die Musik mehr. Wichtig sei, dass die Musik schön ist. Heute würden fast nur noch Legenden und Heldengeschichten vertont. Entscheidend sei doch, ob die Musik gefalle. 

Der Komponist Jeanbourquin fand ebenfalls, am wichtigsten sei die Musik. Oft müsse man am Schluss des Kompositionsprozesses einen Titel finden. Es kann also sein, dass zuerst die Musik entsteht, und erst danach das Programm resp. die Geschichte zur Musik.

Kipfer fragt sich, wieso nicht mehr für 3.-Klass-Vereine komponiert werde. Trachsel fand, am schwierigsten sei es, für die 1. Klasse zu komponieren. Da sei das Gefälle am frappantesten. Jeanbourquin schreibt, was ihm gefällt. Hug betonte, es gebe schon Leitplanken, wie eine gewisse Identität beim Schwierigkeitsgrad. Der Schwierigkeitsgrad müsse auch zur Besetzung passen. 

 

Felix Hauswirth (links) und Michael Hug

 

Spielen wir am Volk vorbei? Hauswirth war sich immer bewusst, dass es das Publikum braucht. In seinen Gedanken sei das Publikum immer dabei. Oft heisst es: “Der erste Teil für den Dirigenten und den zweiten fürs Publikum”. Trachsel sagt dazu: “Was soll das?” Alles müsse Verein und Publikum gefallen. 

Wissen wir denn überhaupt, was das Publikum will? Schönbächler erinnerte an die Erwartungshaltung. Diese ist anders, wenn man ein Höchstklass-Orchester besucht, als wenn man zum Dorfverein geht. Hug findet, ein grosser Teil des Publikums würde bewusst auslesen, wo es hingeht. 

 

Moderatorin Michèle Schönbächler schloss die Diskussion mit der Feststellung. “Es gibt nicht die eine Wahrheit.” Die Frage, ob die Blasmusik am Volk vorbei spiele, habe viele Facetten.

 

Der Schweizer Blasmusik-Dirigentenverband dankt dem SBV für die Chance, dieses Podium organisieren zu dürfen. Wir gratulieren dem Schweizer Blasmusikverband zu aVENTura!

Bilder: RSfilm/windband.ch 

 

Michèle Schönbächler

 

 

 

 Bild: RSfilm/windband.ch/windband.ch